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Legitimität

Michael Seibel • Legitimität und das tolerable Ungute   (Last Update: 31.08.2018)

Und selbst wenn diese Form, die Demokratie, historisch gerade wie in der Schweiz bisweilen in einer besonders ausgeprägten Form als direkte Demokratie besteht, sagt das noch nichts über die Qualität der getroffenen Entscheidungen, die auf diese Weise zustande kommen. Art. 72, Abs. 3 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, angenommen in der Volksabstimmung vom 29. Nov. 2009, lautet knapp: „Der Bau von Minaretten ist verboten“ und ist meines Erachtens ein Akt grober Intoleranz und im Sinne des sozialen Friedens in der Schweiz schlicht unnötig. In Schweizer Dörfern imponiert überall der Kirchturm und nirgends das Minarett. Selbst an den paar Orten, an denen es eins gibt, in Zürich, Winterthur, Genf und Wangen bei Olten, duckt es sich klein weg. Aber so ist es in der Schweiz bis auf weiteres geregelt, und was ich oder sonst wer in der Sache denkt, die Entscheidung ist demokratisch legitimiert.


Die Entscheidung, den Bau von Minaretten zu verbieten, hat – zwar nicht generell, aber im Staatsgebiet der Schweiz – eine bestimmte neue Eigenschaft hinzugewonnen, nämlich Legitimität.

Die Eigenschaft der Legitimität nimmt die Entscheidung – wie auch immer sie zuvor andernorts vorbereitet wurde, – bei ihrem Zustandekommen durch ein soziales Ritual an. So wie bei der Wandlung aus Brot und Wein der Leib und das Blut des Herrn werden, wird aus einer Entscheidung, sie mag vielen unsachgemäß und ungerecht erscheinen, bei der demokratischen Wahl etwas Anerkennungswürdiges, Legitimes, einfach und ausschließlich durch die Art ihres Zustandekommens, durch den Wähler, den man an einen bestimmten Ort gerufen hat, oder dem man Wahlunterlagen zugesandt hat mit der Aufforderung, sich an ein bestimmtes Procedere zu halten, den Wähler, der zum Bürger wird, zum Mitglied der Polis, der sich vom nicht Wahlberechtigten unterscheidet wie der Priester vom Laien. Lassen wir zunächst offen, ob allein die Form der Wahl ausreicht, um Legitimität zu erzeugen oder ihr ererbter ritueller Charakter. Ich denke, man unterschätzt leicht, was Legitimität im sozialen Zusammenleben zu leisten hat, das Regeln folgen soll, die keineswegs alle gutheißen. Zweifel sind angebracht, ob allein die Form ausreicht, um gut und richtig erscheinen zu lassen, was es nach persönlicher Einschätzung nicht ist. Ein Stück weit wird die neue Geltung des demokratisch Entschiedenen sicher auch dadurch gestützt, dass die Mehrheit - oder das, was die betreffende Verfassung als Mehrheit versteht4 - in Szene gesetzt wird, dass der Überstimmte die bürgerliche Mehrheit gleichsam von Angesicht zu Angesicht zu sehen bekommt, um dauerhaft zu akzeptieren, dass gilt, was er selbst falsch findet und damit umgekehrt der Zustimmende das seiner Meinung nach Richtige zugleich via Medien oder auf der Straße als mächtig in der unio mystica einer bürgerlichen Mehrheit erlebt.

Legitimität zielt darauf ab, den sozialen Frieden und die Kontrolle monopolisierter Gewalt in einem funktionierenden Staat mit dem geringst möglichen Aufwand zu erhalten. Wehrhafte Verteidigung von was auch immer und durch wen auch immer, so lehrt die Erfahrung, ist entschieden aufwändiger.


Die Entscheidung, den Bau von Minaretten zu verbieten, kann also durchaus gleichzeitig völlig ungerecht und ganz und gar gerechtfertigt sein,< genau darin besteht Legitimität, ungerecht zumindest aus Sicht der Minderheit, die nicht entsprechend optiert hat. Üblicherweise ist allein das Gute und Richtige wert, anerkannt, getan und umgesetzt zu werden und das Falsche nicht. Legitimität ist demgegenüber ein neues, zweites, zusätzliches Geltungskriterium, eine mit einem anderen Wertmaß ausgestattete Eigenschaft fern von anderen Eigenschaften wie richtig oder falsch, gerecht oder ungerecht. In vielen modernen Demokratietheorien geht man davon aus, dass politische Mehrheitsentscheidungen Kompromissbildungen vieler verschiedener Einzelinteressen darstellen, - wogegen an sich nichts zu sagen ist -, die jede für sich in einer pluralistischen Gesellschaft legitim sind. Legitimität würde demnach bereits vor der politischen Entscheidung bestehen und nicht durch sie. Das scheint mir ein zu schwacher Begriff von Legitimität zu sein. Legitimität bestünde in der Freiheit, unterschiedliche Interessen im politischen Diskurs überhaupt auszudrücken und wäre bloße Meinungsfreiheit. Das politische Ergebnis wird ausverhandelt. Aus dieser Sicht gibt es nicht gut und schlecht, sondern nur eine Pluralität des Legitimen. Aber selbst wenn Legitimität durch Kompromisse zustande kommt, bei denen ein Koalitionspartner Zugeständnisse für die Zustimmung zu etwas macht, was er sonst abgelehnt hätte, stehen alle Akteure, die nicht Teil der Koalition sind, vor der Anforderung, gelten lassen zu müssen, was in ihren Augen schlecht ist. Der Kompromiss nützt der Minderheit nichts. Die Brisanz der Tatsache, dass in der Demokratie die unterlegene Minderheit mit der aus ihrer Sicht nicht nur technisch, sondern möglicherweise auch ethisch unguten Lösung leben muss, wird nicht Thema, sondern hinter dem Kompromiss wegharmonisiert. Damit wird eine empfindliche Nahtstellen unsichtbar, die in Krisen aufbricht.

Außerdem sind Kompromissbildungen historisch im Parlamentarismus und überhaupt in deliberativen, beratenden Formen der Entscheidungsfindung angesiedelt. Beide, Parlamentarismus und Demokratie setzen einen fortgeschrittenen Verstaatlichungsprozess voraus, der in Europa zumeist eine Hinterlassenschaft des barocken Absolutismus ist, der sich unter anderem in der Aufstellung stehender Heere und damit verbunden, der Monopolisierung der Gewalt, dem Aufbau eines allein vom Herrscher abhängigen Beamtenapparats, der Einbindung der Kirche in das Staatswesen und einem merkantilistischen Wirtschaftssystem manifestierte. Parlamentarismus und Demokratie sind keineswegs in ihrer modernen historischen Entwicklung seit der Französischen Revolution und durch das 19. Jahrh. aneinander gebunden. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert setzt sich die Verbindung von Parlamentarismus und egalitärer Massendemokratie durch.


Legitimität selbst wurde geschichtlich und kulturell unterschiedlich begründet und ist nur dem Namen nach eine Erfindung der Moderne. Sobald soziale Gebilde als Ordnungen verstanden werden, am Ende gar als Systeme, obwohl sie in ihrem Inneren Widersprüche aufweisen, die sie eigentlich jeden Moment auflösen müssten, wird man Konstrukte der Legitimität finden, begründete und sozial akzeptierte Formen des Geltenlassens des Unguten im Inneren der Gemeinschaft. Das ist nicht neu. Das christliche Mittelalter mutete dem Menschen als von Gott in eine Standesgesellschaft hinein geschaffen zu, das Böse als Mitbestand der Schöpfung hinzunehmen, sowie in den weiten Grenzen religiös begründeter Legitimität die Willkür des christlichen Herrschers zu ertragen. Demokratische Legitimität steht demgegenüber auf einem anderen Grund, sie teilt aber mit der mittelalterlichen Legitimität, dass sie dem Unguten ein begrenztes Recht auf Geltung im Inneren verschafft, indem sie eine Idee liefert, die es erlaubt, Widersprüche diskursiv zu verhandeln und die Bürgerkriegsgefahr zu bannen. Die heute sicher verbreitetste Form von Legitimität ist nicht die demokratische, sondern die vom Eigentumsbegriff bestimmte Form der Legitimität nahezu uneingeschränkter privater Verfügung.5


Entscheidender Vorteil der direkten Demokratie als Form bleibt, dass für die Mehrheit Gerechtigkeit und Rechtfertigung deckungsgleich sind und dass für die verbleibende Minderheit selbst das Ungerechte in den Grenzen demokratischer Legitimität gerechtfertigt ist und nicht einfach als gewaltsam aufgenötigt erlebt wird. Dennoch bleibt für sie eine kritische Kluft zwischen dem Guten und dem Legitimen, die nicht endlos groß werden darf, soll sie das demokratische Band nicht sprengen. Demokratie ist in diesem Sinne gefährdet. Gefährdet nicht als Form, sondern als Ordnung, also in einem durchaus unpräzisen Sinn des Wortes der Machtausübung durch den demos.


Demokratie ist als Name einer Gesellschaftsordnung aus mehreren Gründen unpräzise. Man kann Gesellschaften wie auch die unsere als Ordnungen betrachten. Man sieht dann allerdings von den menschlichen Praxen ab, die solche Ordnung ständig durcheinanderbringen, verunordnen, weitertreiben und wieder neu ordnen. Dennoch macht es Sinn, Gesellschaften gleichsam einen Augenblick lang einzufrieren und als Ordnung zu beschreiben. Manche Muster, die sich dabei erkennen lassen, sind hinreichend stabil. Macht man das allerdings mit unserer Gesellschaft, findet man nur wenige genuin demokratische Strukturen. Was man findet, sind wesentlich mehr Hierarchien und abstrakte Autonomien (der Kunde, der Unternehmer etc.) und zunehmend mehr Algorithmen, also bei allem Schein von dynamischer Anpassungsfähigkeit letztlich mechanische Ablaufvorschriften, in denen Entscheidungen durch Messungen ersetzt werden. Demokratische Formen sind fast ausschließlich da anzutreffen, wo Legitimität erzeugt werden soll. Wo hingegen sachgerechte Urteile erzeugt werden sollen, ist Sachkompetenz gefragt, die ganz anders definiert ist, und nicht demokratische Abstimmung. Wo sich Eigentumsverhältnisse zur Geltung bringen, wird zwar abgestimmt, aber nicht nach dem Prinzip ein Wähler = eine Stimme, sondern entsprechend der Eigentumsanteile.





Anmerkungen:

4 Das kann wie bei der Wahl Trumps in den USA deutlich weniger sein als die zahlenmäßige Mehrheit. Es kann im Begriff des Volkes, wie ihn der Rechtspopulismus verwendet, auch eine vergleichsweise kleine Minderheit sein.

5 Art. 14 Abs.2 GG: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums schränkt in erster Linie die Rechte des Privateigentümers nicht ein, sondern erfindet die Legitimität des Eigentums. Eigentum richtet einen Widerspruch auf. Jedes Privateigentum enthält per definitionem das Gut, woran es besteht, allen anderen vor. In der Formel von der Sozialpflichtigkeit des Eigentums werden Eigentumsrechte gerade nicht eingeschränkt, sondern ganz im Gegenteil als grundsätzlich friedensfähig und tolerabel darstellt, mithin Eigentum selbst als legitim. Das Gut, woran Privateigentum besteht, ist für die Gemeinschaft verloren, aber die Gemeinschaft kann damit leben. Und an der Grenze, an der sie nicht damit leben kann, endet das Privateigentum. Das scheint mit §14, Abs.2 zu sagen. Er stiftet Legitimität.



Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de



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